Wissen und Objekte. Materielle Kulturen in den Medical Humanities

Wissen und Objekte. Materielle Kulturen in den Medical Humanities

Organisatoren
Maria Böhmer, Anita Winkler, AG Medical Humanities des Zentrum Geschichte des Wissens (ZGW), ETH Zürich
Ort
Zürich
Land
Switzerland
Vom - Bis
27.10.2016 - 28.10.2017
Url der Konferenzwebsite
Von
Sandra Lang, Collegium Helveticum, ETH Zürich,

Die Medical Humanities bilden derzeit ein dynamisches interdisziplinäres Forschungsfeld, in welchem primär zwei Ziele verfolgt werden: Zum einen wird die Einbindung geistes- und sozialwissenschaftlicher Inhalte in die Lehre an Medizinischen Fakultäten angestrebt, zum anderen geht es den Medical Humanities um die Auseinandersetzung mit und das kritische Reflektieren über Medizin als Wissenschaft und Praxis. In den letzten Jahren ist die ursprünglich anglo-amerikanische Debatte im deutschsprachigen Raum vermehrt aufgegriffen worden; in jüngster Zeit beginnen sich die Medical Humanities auch institutionell zu etablieren, hier meistens verankert an Medizinischen Fakultäten. Die Arbeitsgemeinschaft „Medical Humanities“ des Zürcher Zentrum Geschichte des Wissens (ZGW) hat im Oktober 2016 unter der Leitung von Maria Böhmer und Anita Winkler einen Workshop zum Thema „Wissen und Objekte. Materielle Kulturen in den Medical Humanities“ veranstaltet. Dieser hat Vertreter/innen aus Soziologie, Geschichtswissenschaft, Ethnologie sowie Literatur- und Kulturwissenschaft zusammengebracht, um die Rolle von Objekten und materieller Kultur in Geschichte und Gegenwart der Medizin als neue Forschungsperspektive in den Medical Humanities zu diskutieren.

Gemäß der Einführung der Veranstalterinnen stehen in den Forschungsbeiträgen der Medical Humanities bisher die Aspekte des Narrativen („Narrative Medicine“), der Kommunikation sowie der zwischenmenschlichen Beziehung in der Medizin im Vordergrund, insbesondere wenn es um die Untersuchung von Krankheitserfahrungen von Patienten und Patieninnen geht. Die materiellen Bedingungen medizinischer Kulturen wurden bisher hingegen weniger intensiv diskutiert, auch wenn es im angelsächsischen Raum in diesem Jahr einzelne Veranstaltungen zu diesem Aspekt gab.

Folgende Leitfragen wurden seitens der Veranstalterinnen aufgeworfen: Wie wird ein Objekt zu einem „medizinischen“ Objekt? Woran lässt es sich als solches erkennen? Wo beginnt es und wo hört es auf – das heisst, wo sind die Grenzen zwischen Objekten und der sie umgebenden und mit ihnen interagierenden Kultur und Sozialität auszumachen? Und nicht zuletzt: Mit welchen Methoden können solche Objekte innerhalb der unterschiedlichen Disziplinen erforscht werden?

Den Auftakt zur Veranstaltung bildete ein Abendvortrag der Historikerin CLAUDIA STEIN (Warwick) zum Thema „Objekte und Geschichten: Die Erfindung der Geschichte der Hygiene auf der Internationalen Hygiene-Ausstellung in Dresden (1911)“. Steins Beitrag zielte auf eine Historisierung des Objektbegriffs selbst ab. Die historische Abteilung der Internationalen Hygiene-Ausstellung in Dresden hielt, so die Referentin, eine legitimierende Funktion für die gesamte Ausstellung inne, da sie mit der Fülle an Ausstellungsobjekten dem zeitgenössischen Leitbild des Historismus entsprach. Als Wissenschaft legitimierte die Sozialhygiene ihre Existenz, ähnlich wie auch Medizin, Recht und Ökonomie, durch den Verweis auf ihre Geschichte. Die Hygiene als aufkommendes Feld wurde im Ausstellungsrundgang durch die verschiedenen Zeitepochen historisiert und so in ein Fortschrittsnarrativ gefasst. Stein zeigte, wie die Exponate in der Vorbereitung der Ausstellung zuerst als „hygienische“ Objekte definiert und gesammelt werden mussten, um dann in der Zusammenschau die Hygiene als Wissenschaft und Praxis zu konstruieren.

Die Literaturhistorikerin MARTINA WERNLI (Neuchâtel) befasste sich mit Schlüsseln aus der Berner Psychiatrie Waldau, die deren Arzt Walter Morgenthaler zu Beginn des 20. Jahrhunderts seinen Patienten und Patientinnen nach Fluchtversuchen abgenommen und dann als Sammlung angelegt hatte. Als Material zur Herstellung dieser Schlüssel dienten unter anderem zweckentfremdete Bettfedern, Knochen und Badezimmerhaken sowie entwendete und kopierte Schlüssel. Somit dokumentieren die Schlüssel nicht nur die spektakulären Ausbruchsversuche, sondern verweisen auch auf die Disziplinarmacht der Psychiatrie als Institution. Als Anschauungsmaterial in der Pflegedidaktik verwendet, dienten die Schlüssel dazu, den Blick des Personals auf potentiell verdächtige Gegenstände, Mobiliar sowie auf Räumlichkeiten zu schärfen. Die Verknüpfung der Schlüssel als Artefakte mit den dazugehörigen Vermerken in Patientendossiers erlaubte es Wernli, die Schlüssel als Objekte zwischen Alltag und Wissensproduktion der Psychiatrie zu untersuchen. Damit zeigte sie, wie ein Alltagsgegenstand durch die soziale Interaktion und das räumliche Setting zu einem normierenden Objekt der Psychiatrie werden konnte.

BEAT BÄCHI (Bern) thematisierte die Materialität des Wissens in der landwirtschaftlichen, industriellen und wissenschaftlichen Produktion psychotroper Stoffe im 20. Jahrhundert. Am Beispiel der Produktion von Mutterkorn beschrieb er die Transformation eines Naturstoffes in eine Substanz der Schweizer Industriegesellschaft. Hierbei waren verschiedene Akteur/innen, unter anderem Forscher/innen, Erntehelfer/innen, Vertriebspartner/innen oder Bauern und Bäuerinnen sowie Objekte wie Geräte zum „Beimpfen“ von Roggenähren, Wissensformen und Praktiken involviert. Der Fokus auf die Prozesse der Herstellung psychotroper Stoffe ist in der Medizingeschichte insofern innovativ, als dass er bisherige konsumhistorische Forschungen erweitert. Bächis Beitrag zeigte, dass für eine solche Untersuchung eine Verknüpfung von medizin- und wissenschaftshistorischen Ansätzen mit agrar-, technik- und kulturgeschichtlichen Perspektiven unerlässlich ist.

SUNJOY MATHIEU (Zürich) und JULIA KURZ (Siegen) thematisierten in der Vorstellung ihrer Dissertationsprojekte verschiedene Objektbeziehungen in der klinischen Praxis. Während Mathieu ihre medizinhistorische Forschung zu chirurgischen Instrumenten in der Tuberkulosetherapie vorstellte, präsentierte Kurz eine soziologische Untersuchung der Wirkmächtigkeit bildgebender Verfahren in der Wissensproduktion in einer heutigen Klinik. MARIA KEIL (Berlin) rekonstruierte in ihrem Vortrag die historische Genese des mechanisierten Krankenbettes („Bettmaschine“) und vermittelte so aufschlussreiche Erkenntnisse über die Etablierung eines neuen Industriezweiges seit dem 18. Jahrhundert. Ihre Untersuchung der involvierten ingenieurswissenschaftlichen und gestalterischen Praktiken ermöglichte Aussagen zur Verwissenschaftlichung der Pflege sowie zu Arbeitsergonomie, zur Kulturgeschichte des Bettes (und anderer Liegemöbel) sowie zur Hygiene- und Patient/innen-geschichte.

Die Herausforderungen des interdisziplinären Arbeitens zeigten sich während der Textdiskussion, die den Beiträgen der Referenten und Referentinnen vorausging. Um die Konsequenzen des material turn bzw. praxeological turn für die Medical Humanities zu eruieren, diskutierte die AG Medical Humanities mit Claudia Stein und dem Publikum drei ausgewählte Texte, die aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven die Erforschung von Objekten in und außerhalb der Medizin behandeln1. Die Diskussion zeigte, dass aufgrund der unterschiedlichen Literaturkanonisierung, Forschungsprogrammatik und Rezeptionsgeschichte bezüglich des material turn zunächst ein großer Verständigungsbedarf zwischen den Disziplinen besteht, was Begrifflichkeiten und Konzepte betrifft. Diese disziplinären Hintergründe bereichern das Feld der Medical Humanities, machen es aber auch sehr heterogen. Claudia Stein plädierte in diesem Zusammenhang für eine kritische Auseinandersetzung mit theoretischen Konzepten, die im Feld unhinterfragt etwa aus den Science and Technology Studies übernommen würden. Nutzen und Nachteil theoretischer Konzepte müssten im Forschungsprozess kritisch reflektiert und bezüglich der Gegenstandsangemessenheit überprüft werden. Als Forscher/in gelte es stets zu reflektieren, wie man selbst mit Objekten operiert, wie man sie darstellt und repräsentiert und welche Standortgebundenheit dem eigenen Zugang zugrunde liegt. Auch implizite politische Verortungen und das Verhältnis zwischen Medizin- und Naturwissenschaften innerhalb der Medical Humanities gelte es in den analytischen Zugängen kritisch zu reflektieren. FLURIN CONDRAU (Zürich) betonte vor seinem Hintergrund als Medizinhistoriker den Bedarf nach einer stärkeren Zusammenarbeit mit (medizin-)historischen Sammlungen (vor allem deren Konservierungsabteilungen), die notwendige Kooperationspartner/innen darstellen, um objektbezogene Untersuchungen vorzunehmen.

Abschließend ist festzuhalten, dass der Workshop durch seinen innovativen Fokus auf die Objektbeziehungen in der Medizin einen wichtigen Beitrag zur disziplinären Verortung und Profilierung der Medical Humanities im deutschsprachigen Raum geleistet hat. Es ist deutlich geworden, dass sich die Diskussionen innerhalb der Medical Humanities häufig in einem Spannungsfeld zwischen dem Bemühen um Interdisziplinarität und der Zugehörigkeit zu den Herkunftsdisziplinen der einzelnen ForscherInnen bewegen. Dieses Spannungsfeld kann konstruktiv sein, stellt aber auch eine Herausforderung dar. Ob (Medizin)geschichte, Wissenschaftssoziologie, STS, Literatur- oder Kulturwissenschaft, für alle Beiträger/innen zum Feld ist eine möglichst deutliche Positionierung in Bezug auf die Herangehensweise an Objekte sowie in Bezug auf Theorie und Methode notwendig. Durch die Omnipräsenz der materiellen Kultur in der Medizin sowie durch ihre genuine Interdisziplinarität sind die Medical Humanities ein fruchtbarer Boden, auf dem weitere objektbezogene Forschungsprojekte gedeihen können.

Konferenzübersicht:

Claudia Stein (University of Warwick), Objekte und Geschichten: Die Erfindung der Geschichte der Hygiene auf der Internationalen Hygiene-Ausstellung in Dresden (1911)

Martina Wernli (Literaturgeschichte, Université de Neuchâtel), Umdrehen und Abhauen. Psychiatrische Schlüssel-Szenen

Sunjoy Mathieu (Medizingeschichte, Universität Zürich), Chirurgische Instrumente – materialisierter technologischer Fortschritt in der Tuberkulose-Therapie

Julia Kurz (Medizinsoziologie, Universität Siegen), Wissen, Körper und Technik im Widerstreit. Epistemische Praktiken in der Neurochirurgie

Beat Bächi (Medizingeschichte, Bern), Kluser-Roggen und mexikanische Zauberpilze: Die Materialität des Wissens in der landwirtschaftlichen, industriellen und wissenschaftlichen Produktion psychotroper Stoffe

Maria Keil (Kulturwissenschaft, Berlin), Mechanization Takes Command. – Professionalisierung im Krankenhaus vom Bett aus betrachtet

Abschlusskommentare: Flurin Condrau (Medizingeschichte, Universität Zürich) / Claudia Stein (University of Warwick)

Anmerkung:
1 Lorraine Daston, 'Speechless' (Introduction), in dies. (Hrsg.), Thinks that talk: Object Lessons From Art and Science, New York 2004, S. 9–24; Annemarie Mol, The Body Multiple: Ontology in Medical Practice, London 2002, S. 29–51; Claudia Stein / Roger Cooter, Visual Objects and Universal Meanings: AIDS Posters and the Politics of Globalisation and History, Medical History 55, 2011, S. 85–108.